LESEPROBE

 

kushner.jpg (12050 Byte)

Bestellen

 

Linkshändige Jüdin Erzählungen

1998
85 Seiten
22 cm - Kt

 

 

4

Scharlach: Die Woche der Brüderlichkeit

Scharlach
Soll ich oder soll ich nicht?

Die Woche der Brüderlichkeit, diese initiierte Verständigungswoche, scheint mir nicht der richtige Rahmen für meine Vorträge zu sein. Aber Lindau böte die Möglichkeit, mich wieder einmal mit Marianne zu treffen. Der Gedanke an einen Abstecher in die Schweiz wiegt schwerer und verdrängt meine Bedenken.

Wochen später befinde ich mich in einem der unterkühlten Pfarrsäle am Bodensee. Während die Zuhörer eintrudeln, lese ich die Mitteilungen am Schwarzen Brett: Vom Kindertreff, wo hinterher alles aufgeräumt werden muß, über ein Frauenfrühstück mit gemeinsamen Gebet bis zu einer Mitteilung aus Rom mit dem Aufruf, ungeborenes Leben zu schützen.

Dann kommt er, der Herr Pfarrer. Denn kenne ich doch, geht es mir durch den Kopf. Aber irgendwie sehen sich die Pfarrer alle ähnlich. Die große Gestalt mit dem grauen Lockenkranz läßt mich in Gedanken nicht mehr los.

Während er seine Gemeinde auf den Abend einstimmt: "... und wollen wir Verstehen und Toleranz immer an uns selbst prüfen...", kann ich mich kaum auf meinen Vortrag konzentrieren. Diese Stimme!

Am Rednerpult ist meine gewohnte Routine plötzlich wieder da. Ich rede über den Mondkalender und höre mich Schaltjahre erläutern, während ich vor meinem inneren Auge zwei kleine Mädchen bei Wind und Wetter durch Bonns Norden laufen sehe, meine Schulfreundin Angelika und mich. In einer alten Einkaufstasche schleppen wir die Kirchenzeitung von Haus zu Haus.

In meinen Ausführungen zum Feiertagszyklus nähere ich mich dem Fest der Versöhnung und beantworte Fragen, während ich gleichzeitig mit Angelika die Römerstraße und die Nordstraße entlang gehe und in die Rheindorferstraße einbiege, immer sorgfältig die Kirchenzeitung faltend. Bei den Baracken am Augustusring gruselt es uns immer ein bißchen. Brav wechseln wir uns mit dem Tragen der schweren Tasche ab. Ich kenne alle Katholiken in unserem Viertel.

Meine Zuhörer vernehmen zum erstenmal vom Neujahrsfest der Bäume.
Angelika und ich sitzen bei ihr zu Hause auf der Couch und trinken heißen Kakao. Die Tragtasche ist fast leer, man sieht das zerrissene Innenfutteral. Angelikas Vater ist vor ein paar Monaten gestorben. In Geldangelegenheiten steht es nicht zum Besten bei Schneiders, sagt meine Mama.

Meine Zuhörer erfahren, daß ich die Hamanntaschen zu Purim mit Mohn fülle...
Am Ende des Schuljahrs sollten wir nach Niederlützingen fahren. Angelika legte jeden Pfennig, den ihr das Austragen der Kirchenzeitung einbrachte, dafür zur Seite. Sie mußte unbedingt die Schulreise nach Niederlützingen mitmachen.

In meinem Referat sind wir schon beim Frühlingsfest. Ich erzähle von den Peßachvorbereitungen und dem dazu notwendigen doppelten Geschirr.
In Gedanken aber stehe ich im Hausflur und warte auf Angelika. Es ist ganz dunkel, als nicht sie, sondern ihre Mutter auftaucht. "Angelika hat Scharlach", sagt sie, "sie kann leider keine Zeitungen austragen. Es wird Wochen dauern, bis sie wieder ganz gesund ist."

Ich bitte Frau Schneider um die Tasche. Weil ich alle Leute kenne, trage ich die Zeitungen allein aus. Frau Schneider steckt mir eine Birne als Proviant zu.

Mein Vortrag nähert sich dem Ende. "Moses erhält stellvertretend für das jüdische Volk die Gebote", höre ich mich sagen.
Ich, ein kleines Mädchen mit großer Tasche stehe vor dem gelben Sandsteinhaus des Pfarrers. Die schwere Holztür öffnet sich. Ich knickse, denn der Herr Pfarrer steht vor mir.

"Angelika hat Scharlach. Ich komme, um für sie die Zeitung auszutragen." Die riesige Hand des Pfarrers fährt durch den schwarzen Lockenkranz. "Du gehörst aber nicht zu unserer Gemeinde, oder bist du von der Kreuzkirchengemeinde?!"

"Ich bin jüdisch"

"Solange Angelika krank ist, wird ein Ministrant die Zeitung austragen.
Und du, du gehst jetzt nach Hause!"

Mein Vortrag über den Kreislauf des jüdischen Jahres ist beendet.
Meine Augen suchen den grauen Lockenkranz.

 

 

 

WEITERE LESEPROBEN AUS DEM BUCH: